Katrin Eigendorf - Laudatorin 2022

Rede von ZDF-Reporterin Katrin Eigendorf für Preisträger Christoph Reuter anlässlich der Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises 2022 am 10. November 2022 beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg.

"Lieber Christoph Reuter, liebe Kolleginnen und Kollegen,

China, Afghanistan, jetzt die Ukraine: es sind mehr und mehr große außenpolitische Themen, die in den letzten Jahren im Zentrum des Hanns-Joachim Friedrichs Preises stehen. Und es scheint fast, als gebe es eine kontinuierliche Steigerung. So war es für die Jury keine Frage, dass die Verleihung des Hanns-Joachim-Friederichs-Preises im Jahr 2022 nur ein Thema setzen kann: der Krieg in der Ukraine und die damit verbundene Zeitenwende – eine Zeitenwende auch für den Journalismus.

Wie weit diese reicht, wird klar, wenn man Christoph Reuter zuhört. Wenn einer wie er, der seit über 30 Jahren in den Kriegs- und Krisengebieten der Welt unterwegs ist, sagt, er sei fassungslos angesichts der – wie er es nennt – „Taktung des Grauens“, dann sollte das jede und jeden nachdenklich stimmen.

Am 15. April 2022 meldet sich Christoph Reuter in schusssicherer Weste und Stahlhelm aus den Trümmern der Stadt Sjewerodonezk. Die russische Armee ist kurz davor einzumarschieren, immer mehr Menschen machten sich auf die Flucht. Doch einige blieben, trotz allem und vielleicht auch, weil sie ahnen, dass auch Flüchtende nicht mehr sicher sind.

So wie die mehr als 1000 Menschen, die am Bahnhof von Kramatorsk auf einen Evakuierungszug warten. Als die russische Armee am 8. April Raketen mit Cluster Munition auf die Zivilisten feuert, ist Christoph Reuter mit seinem Team gerade am Stadtrand. Sie machen sich sofort auf den Weg, sehen Männer, Frauen und sogar Kinder, deren Körper von den tausenden Metallsplittern zerfetzt wurden. 35 Tote sind es am Ende des Tages, mehr als 100 Menschen werden schwer verletzt.

Ruhig und mit wohl überlegten Worten, so wie es seine Art ist, spricht Christoph Reuter an diesem Tag in die Kamera. Er sagt: „Ich habe erlebt, wie ein Al Quaida Selbstmord Attentäter sich auf einer Straßenkreuzung im Irak in die Luft sprengt. Ich habe 2014 gesehen, was eine Fassbombe der syrischen Luftwaffe anrichtet, in einer Gruppe von Tagelöhnern in Aleppo. Aber so etwas, dass eine europäische Regierung eine Rakete mit Splittergefechtskopf mitten in einen Bahnhof voller wartender Zivilisten feuert, so etwas habe ich noch nie erlebt.“

Christoph Reuter ist eigentlich ein Zeitungs-, ein Magazinjournalist. Ein Reporter im klassischen Sinne. Er hat für GEO berichtet, für den STERN, DIE ZEIT und seit 2011 ist er Auslandsreporter des SPIEGEL. Einer der besten.

Warum bekommt er nun einen Preis für herausragenden Fernsehjournalismus?

Weil Christoph Reuter schon früh verstanden hat, dass die Welt der Medien vielfältiger geworden ist. Dass er ein viel breiteres Publikum findet, wenn er nicht nur fachlich sein Wirkungsfeld erweitert, sondern auch die ganze Vielfalt der Medien nutzt.

Sein Kollege und Freund Marcel Mettelsiefen hat mir erzählt, wie er gemeinsam mit Christoph im umkämpften Aleppo in Syrien unterwegs war und plötzlich aus Hamburg, aus der SPIEGEL Redaktion die Bitte kam: „macht doch auch mal was mit Bewegtbild!“

Das war 2013 – und Marcel Mettelsiefen sagt, es sei der Moment gewesen, in dem aus ihm, dem Fotografen, ein Filmemacher wurde. Und aus Christoph Reuter, dem Magazinjournalisten, ein Videoreporter.

Das hört sich jetzt so einfach an. Aber wer uns Journalist*innen kennt, der weiß, wie schwer wir uns mit dem Wechsel des Mediums tun. Nicht so Christoph Reuter. Ihm ist es auf beeindruckende Weise gelungen, sein Talent für die Reportage, für das genaue Beobachten, für die treffsichere Analyse auch ins Bewegtbild zu übertragen.

Diese Fähigkeit ist gerade im Ukrainekrieg ein Glücksfall für die Menschen in unserem Land, die davon abhängig sind, dass das, was vor Ort passiert, im Detail dargestellt und auch eingeordnet wird. Christoph Reuter hat den Menschen in Deutschland diesem Krieg in der Ukraine nahegebracht, von Anfang an.

Er ist mit seinem kleinen Team dorthin hingegangen, wo normale Menschen die Flucht ergreifen. Er ist die Gefahr eingegangen, weil es so wichtig war, die Wahrheit zu dokumentieren – schonungslos, aber auch verantwortungsvoll.

Er ist im März dieses Jahres in Kyiw geblieben, selbst dann noch, als die russischen Panzerkolonnen von Norden und Osten auf die Stadt zurollten und alle damit rechneten, dass Kyiw bald ganz eingeschlossen sein würde – und vielleicht niemand mehr rauskommt. Es waren Tage, in denen auch die erfahrenen Kriegsreporter von CNN und BBC von Angst sprachen.

Nicht nur der Spiegel, auch ARD und ZDF setzen in den ersten Wochen des Krieges immer wieder auf Christoph Reuter. Als Gast in Talkshows, aber auch als Augenzeugen vor Ort. So erzählt er am 3. April im „heute journal“ von dem, was er in Trostjanez gesehen und erlebt hat, einer Stadt, die wie Butcha und Irpin von den Russen fast einen Monat besetzt wurde.

Was die russischen Soldaten in den Städten und Dörfern zurücklassen, bringt auch erfahrene Reporter*innen an Grenzen. Die Bilder von Menschen, die am Straßenrand liegen, willkürlich hingerichtet, manche mit gefesselten Händen, mit Spuren von Folter. Von Leichen, deren starre Gesichter aus Massengräbern herausragen. Und es ist der Gestank von Verwesung, den man nicht zum Zuschauer übertragen kann und den man auch nicht übertragen würde, wenn es denn möglich wäre. Wer das gesehen hat, hat verstanden, was Russlands Krieg gegen die Ukraine ist.

Genau darin liegt der Wert von Christoph Reuter und vielen anderen Reporter*innen, die aus der Ukraine berichten. Wie wichtig ihr Mut und ihre Präsenz ist, wird in diesen Tagen des März 2022 besonders klar. Der russische Außenminister Sergej Lawrow spricht angesichts von Butcha von einer Inszenierung der ukrainischen Regierung und besitzt sogar die Chuzpe, eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates zu fordern. Eine Sitzung, die natürlich nie stattfinden wird.

Die Lüge und Desinformation ist Russlands wichtige Strategie in diesem Krieg. Zweifel säen. Damit am Ende niemand mehr glaubt, dass es eine Wahrheit geben kann. Eine Strategie, die auch in westlichen, demokratischen Staaten verfängt, seit Jahren schon.

Christoph Reuter hat bereits in Syrien erlebt, wie der Krieg der Täuschungen und Lügen funktioniert, das kommt ihm in der Ukraine zugute. Was ihn auszeichnet: er benennt die Realität klar. Während manche selbst angesichts von Butcha noch von vermeintlichen Kriegsverbrechen sprechen, die Berichte aus den Sendezentralen sich immer noch allzu oft darauf beschränken, einfach nur beide Seiten zu Wort kommen zu lassen – findet unser Preisträger klare Worte.

Zu Russlands Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk sagt er: „Genau dafür ist die Cluster Munition gedacht. Nicht um die Bunker oder Panzer zu zerstören. Sondern um die größtmögliche Anzahl von Menschen zu massakrieren.“ Und er sagt auch: „Ich bin mir nicht sicher, ob man in Deutschland wirklich schon begriffen hat, welche Taktung des Grauens, welcher Horror hier in der Ukraine geschieht.“ Christoph Reuter spricht von einem Vernichtungskrieg und fragt sich ebenso, ob man in Deutschland das Ausmaß der Lügen Moskaus begriffen habe.

Der Ukraine Krieg ist der bestdokumentierteste der Geschichte. Eine Flut von Informationen strömt jeden Tag auf uns ein. Und doch lässt sich die Tatsachenwahrheit nur schwer im Internet finden.

Dass ein Reporter weiter Wege auf sich nehmen muss, dass er so nah wie möglich an das Geschehen heranmuss, davon war Hanns-Joachim Friedrichs überzeugt, dafür hat er geworben. Denn nur so kann die Wahrheit sich gegen die Lüge durchsetzen.

Dafür steht Christoph Reuter, das zeichnet ihn aus.

Herzlichen Glückwunsch zum Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis 2022."