Carl Gierstorfer - Laudator 2022
Rede von Carl Gierstorfer, Journalist und Dokumentarfilmer, für Preisträger OstWest anlässlich der Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises 2022 am 10. November 2022 beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg.
"Kleiner Ausschnitt aus der derzeitige Nachrichtenlage im russischen Staatsfernsehen: in Europa verhungern die Menschen, in Berlin holzen sie den Tiergarten ab.
Nachdem – wie es der Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur von Nowaja Gaseta, Dimitry Muratow, pointiert formulierte, in Russland der Genozid an den Medien abgeschlossen wurde, fragt man sich: Wer hält eigentlich noch dagegen, gegen die vom Kreml gesteuerte russischsprachige Propaganda, die auf vielfältigen Kanälen ihr Publikum erreicht?
Nun, die diesjährigen Preisträger OstWest TV mit Sitz in Berlin tun es. Weil, so schreibt die Jury in ihrer Begründung einem der letzten unabhängigen russischsprachigen Sender in Europa (…) etwas Unverzichtbares in Zeiten des Krieges gelingt: unabhängige, den Tatsachen verpflichtete Berichterstattung.
Das klingt nüchtern, ja fast selbstverständlich. Doch es ist -und das wissen wir alle – in diesen Zeiten auch unglaublich schwer. Wer also sind die Menschen hinter OstWest? Was treibt sie an?
Das wollte ich wissen und begab mich auf eine Recherche.
Anruf bei Peter Tietzki, dem Gründer von OstWest TV. Ich erreiche ihn in Litauen, Akquise. Er versucht neue Kanäle für seinen Sender aufzutun. Tietzki wurde in der ehemaligen Sowjetunion geboren, reiste viel umher, der Vater war Pilot in der roten Armee.
Schließlich landeten sie im ukrainischen Kharkiv. Tietzki schlägt die Laufbahn seiner Mutter ein, einer Pianistin, und studiert am Konservatorium klassische Musik. Chopin, Rachmaninow, Beethoven – das seien seine Lieblingskomponisten, sagt er. Beethoven vor allem, weil bei ihm das Tragische und das Romantische so nahe beieinander liegen.
1991, nach dem Kollaps der Sowjetunion folgt Tieztki seiner Liebe nach Berlin. Er kann kein Wort Deutsch, verdient seinen Unterhalt am Flügel im Kempinski. „Freiheit“, sagt er. „frei reden“, „frei reisen“. „Undenkbar in meinem vorherigen Leben“. Euphorie.
Nur eines stört ihn: so viele seiner russischsprachigen Mitbürger lebten in ihrer Blase. Im Tonstudio hat er gelernt Musik zu schneiden. Videoschnitt bringt er sich selbst bei. Er produziert Beiträge für Spree TV – 30-Minüter, Servicestücke im TV-Sprech, in denen auf Russisch erklärt wird, wie man den deutschen Bürokratiedschungel navigiert – ja auch den gibt es hier. Die Themen sind vielfältig, die Message klar: „Kommt raus aus Eurem Sofa“, sagt er. Freiheit bedeutet auch Verantwortung. Initiative.
So geht das die 90er, die Jelzin Jahre. Tietzki pflegt gute Beziehungen zur russischen Botschaft. Man unterstützt sich gegenseitig bei der Integrationsarbeit.
Als Vladimir Putin an die Macht kommt, weiß Tietzki: ein KGB-Mann wird immer ein KGB-Mann bleiben. Aber wer hört schon auf russische Stimmen wie ihn?
2001. Putin hält seine Rede auf Deutsch im Bundestag. Tietzki sendet ein Interview mit tschetschenischen Flüchtlingen. Dann, sagt er, „waren für mich in der russischen Botschaft plötzlich alle Türen geschlossen“.
Keine Einladung zu Empfängen mehr, zu den Feierlichkeiten am 09. Mai. Stille.
Aber wir würden heute nicht hier zusammenkommen, hätte Tietzki nicht weiter gemacht.
Tietzki’s Programm wird politischer, zusammen mit dem russischen Medientycoon und Kremlkritiker Vladimir Gusinsky gründet er einen Sender, aus dem schließlich OstWest TV hervorgehen würde.
Man könnte nun die Wegmarken aufzählen – Weckrufe, Warnrufe: die Verhaftung Chodorkowskis, die Einschränkung der Pressefreiheit, Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz, Pussy Riot, Syrien, die Annexion der Krim, Nawalny …
… und die deutsche Politik, die nicht auf die kritischen Stimmen hörte, nicht auf seine osteuropäischen Nachbarn und stattdessen rote Teppiche für Putin und Lawrow auslegte.
Und auch das sei hier kurz angemerkt: was war eigentlich unsere Rolle als Journalisten in dieser, ja, katastrophalen Fehleinschätzung?
Ich solle doch die Reaktion von OstWest TV besuchen, mit seinen Journalisten sprechen, rät mir Tietzki. Er sei ja nur der Manager. Also mache ich mich auf nach Charlottenburg,
platze mitten in eine Redaktionskonferenz. Das Thema: wer finanziert eigentlich die russischen Blogger hier, die zu Hause auf ihrem Sofa sitzen, ganz unscheinbar und immer wieder dieselbe Laier spielen: der Winter wird hart, die Inflation ist außer Kontrolle. Die deutsche Regierung kümmert sich nicht um euch.
Nein, bei ihnen ist der Tiergarten noch nicht abgeholzt, aber die Pointe bleibt dieselbe: was wäre, wenn wir einfach wieder russisches Gas kaufen würden?
Wie sehr sich dieses Narrativ verfängt, einsickert auch in die deutsche Bevölkerung, die Politik, ist unschwer zu erkennen.
Putinism is a state of mind, sagt eine Redakteurin.
Maria Makeeva ist die Chefredakteurin von OstWest TV. Sie sitzt an ihrem Schreibtisch, eine resolute Frau, das merke ich sofort, die trotzdem alles andere als rechthaberisch oder gar wütend ist.
Das russischsprachige Publikum von OstWest sei sehr divers sagt sie. Es gäbe die Russen in Russland, die Russen in Deutschland; die, bei denen die Propaganda verfängt. Die Zauderer, die Kritiker. Was sie eint, ist, dass sie alle etwas verloren haben: die einen ihre Identität, die anderen ihre Narrative, ihre Heimat. Nun seien noch viele Ukrainer hinzugekommen. Viele sind in Überlebensmodus, traumatisiert, hätten genug von all den schlechten Nachrichten.
Alles und alle haben eine Geschichte. Diese einfache Tatsache nutzt die Propaganda für ihre Zwecke. Heute leben wir in einer „post-truth society“, wie Maria Makeeva sagt.
Aus dieser Erkenntnis leitet sie ihren Auftrag als Journalistin ab: sich den Narrativen der „post-truth society“ zu stellen. Einfühlsam, aber der Wahrheit unbedingt verpflichtet. Die Zuseher könnten dann selbst entscheiden, wem sie glauben oder nicht.
So ist dieser Preis eine Würdigung für ihre unermüdliche Arbeit, für Ihr Festhalten an der Wahrhaftigkeit. Für die vielen Jahre, in denen die Politik - vielleicht wir alle - nicht genug zugehört haben.
Herzlichen Glückwunsch!"