Prof. Christian Drosten - Laudator 2021
Rede von Prof. Christian Drosten, Institutsdirektor der Virologie an der Charité in Berlin, für Preisträger Carl Gierstorfer anlässlich der Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises 2021 am 4. November 2021 beim Westdeutschen Rundfunk in Köln.
"Lieber Freundeskreis,
sehr geehrte Damen und Herren,
lieber Carl Gierstorfer,
die Tagesthemen am 9. November 1989 eröffnete Hanns-Joachim Friedrichs mit dem Satz „Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab.“ Das haben wir vorhin hier schon gesehen. Bitte sehen Sie es mir trotzdem nach, wenn ich vielleicht in dem was ich jetzt sage auch mal einen Superlativ riskiere.
Der diesjährige Preis geht nicht nur an einen Journalisten und Dokumentarfilmer, sondern auch an einen studierten Biologen. Carl Gierstorfer beschäftigt sich fundiert mit diesen biowissenschaftlichen Themen, richtet aber seinen Blick dabei ausschließlich auf den Menschen und die Gesellschaft. Er ist Wissensvermittler und Aufklärer. Dabei ist er nah dran an den Protagonisten seiner Filme und lässt sein Publikum Teil des Geschehens werden.
Herausragend ist sein Film über den Ausbruch des Ebola-Virus in einem liberianischen Dorf. Hier hält er die Kamera nicht auf das Virus oder das Ausmaß der verheerenden westafrikanischen Epidemie. Er zeigt vielmehr die Reflektion des Geschehens auf den Gesichtern der Menschen. Der Film wurde 2017 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet.
In Liberia haben Verwerfungen der Vergangenheit das Zutrauen der Menschen in staatliche Deutungen und Maßnahmen geschwächt. Joseph Boakai, der damalige Vizepräsident Liberias, sagt zu Beginn der Dokumentation: „Ebola is real“ – als müsse er die Menschen überzeugen, dass die Krankheit existiert. Wer hätte gedacht, wie symbolträchtig diese Filmszene in Bezug auf die Reaktion unserer eigenen Gesellschaft auf eine Pandemie sein kann. Auch Corona ist real. Und das weltweit. Nicht jeder will das wahrhaben.
„Man muss sein Herz ganz stark machen, damit man weiter seine Arbeit erledigen kann“, sagt eine Mitarbeiterin des Ebola-Behandlungszentrums. Gleiches gilt für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Intensivstation 43i der Charité. Carl Gierstorfer und Co-Autorin Mareike Müller haben sie stellvertretend für das Personal von Krankenhäusern im ganzen Land in der Dokumentarserie „Charité intensiv“ porträtiert.
Der Film ist eine stille Dokumentation. Der sparsame Umgang mit Kommentaren ist ein Stilmittel, das der Erzählung eine ganz eigene, nonverbale Ebene zufügt. Es braucht keinen harten Schnitt, keine schnelle Kameraführung oder Musik, um die Emotionen in ihrer vollen Wucht auszudrücken. Über jeden Effekt erhaben sind die Gefühle, die das Patientenschicksal auslöst.
Die Misere der Pandemie wird nicht erfasst in Twitter-Schlachten, offiziellen Stellungnahmen oder Meinungsartikeln. Sie liegt auf den Gesichtern der Patienten, ihrer Kinder und Lebenspartner. Und sie spiegelt sich in den Augen des medizinischen Personals, das Tag ein Tag aus ihr Leben den Patienten widmet.
Viele Menschen glauben wahrscheinlich nur ein geringes Risiko zu haben, selbst schwer zu erkranken oder gar zu versterben. Doch was viele verkennen: Es geht auch darum, einen Beitrag zu einem gesellschaftlichen Schutz zu leisten. Ohne flächendeckende Impfung kann nur die Reduktion von Kontakten verhindern, dass zu viele schwere Infektionen gleichzeitig auftreten und das Gesundheitssystem überlastet wird. Insofern sind Einzelschicksale in der Pandemie nicht nur Einzelschicksale. In der Masse können sie ein Gesundheitssystem in die Knie zwingen.
Der große Nutzen, der für die Gesamtheit erreicht wird durch Maßnahmen, deren Eigennutz für viele nur gering erscheint – dies wird oftmals ausgeblendet. Dieses Präventionsparadox zog sich durch die Pandemie wie keine andere Täuschung des Alltags. Wenn wir durch allgemeine Maßnahmen eine Pandemiewelle verhindern, entgehen die relativ seltenen schweren Fälle unserer Alltagswahrnehmung. Ihr Film, lieber Carl Gierstorfer, führt sie uns dennoch vor Augen. Fall für Fall, ohne die Bedrohlichkeit der Bilder von New York oder Bergamo, aber mit nicht geringerer Intensität. So bekommen wir eine Bestätigung darüber, dass die Entscheidung für Prävention die richtige war. Ohne zu kommentieren liefert der Film einen politischen Kommentar.
Für manche der im Film Porträtierten ist das Nichtkommentieren Ausdruck eines stillen Ertragens. Für den Zuschauer ist dies so eindrücklich, dass er selbst die ertragende Rolle einnimmt. Carl Gierstorfer mutet seinem Publikum dabei viel zu. Die Geschichten sind nahbar und die Emotionen spürbar. „Es entsteht ein bis an die Grenzen des Auszuhaltenden authentisches Bild der Pandemie“ schreibt die Jury. Für das medizinische Personal ist das Alltag. Da sind zum einen die konkreten Belastungen durch die Arbeit auf Station, die körperliche und seelische Bürde des Erlebten. Da sind aber zusätzlich die Gefühle, die entstehen, wenn die reine Existenz der Pandemie – also das Virus als Krankheit oder überhaupt als Arbeitsüberlastung im Krankenhaus – in der Öffentlichkeit infrage gestellt wird.
Das Klatschen der Bürgerinnen und Bürger ist leider schon seit längerer Zeit nicht mehr die einzige Resonanz, die das medizinische Personal wahrnimmt. Carl Gierstorfer zeigt uns in seinem Film die Wirklichkeit, die im Unterhaltungsjournalismus ebenso wenig vorkommt, wie in Meinungskolumnen. Die Nachtschicht, den Tag danach, die Augenringe. Viel näher wird man als Fernsehzuschauer kaum herankommen an die Wirklichkeit der Pandemie im Krankenhaus.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass das stille Ertragen, das „Unkommentiertlassen“ eine Verhaltensweise ist, die viele, die an vorderster Front standen, in der Zeit der Pandemie entwickelt haben. Der Film offenbart dieses Phänomen. Die Pandemie hat in der Öffentlichkeit und auch in der Fachwelt Gräben gerissen. Argumentiert wurde oft aus emotionalen Motiven und unter Verfremdung von Forschungsinhalten, um die die Wissenschaft selber erst noch rang. Eine Kollegin aus der Virologie sagte zu Beginn der Pandemie: „Wir zimmern das Schiff, während wir lossegeln.“ Doch es ist auch unsere Pflicht, ausschließlich wissenschafts- und nicht meinungsbasiert zu handeln und zu kommunizieren. Mein Kollege Kai-Uwe Eckardt, der die von Carl Gierstorfer porträtierte Intensivstation leitet, deutet das in seinen sehr besonnenen Interviewpassagen an. Die Realität, das Virus, gehorcht keiner persönlichen Meinung, sondern schafft Fakten. Das führt uns die Dokumentation „Charité intensiv“ nachhaltig vor Augen.
Wir werden lange zu knabbern haben an der Aufarbeitung dieser Pandemie. Eine Nachbesinnung ist nicht nur in der Politik und der Wissenschaft, sondern unbedingt auch im Journalismus nötig. Unsere Realität ist das, was die Medien uns spiegeln. Hierin liegt eine immense Verantwortung, die manche als Macht begreifen. Wie viel Zuspitzung ist möglich, wie stark darf man personalisieren, um ein regulatives Ziel zu erreichen? Darf es in den Unterhaltungsformaten des Journalismus ein „Teile und Herrsche“ geben, also das Teilen von Meinungen zur Beherrschung eines Marktanteils? In einer Pandemie kostet unverantwortliches Handeln Menschenleben. Wegen der dynamischen Verbreitung des Virus bedeutet dies nicht Einzel-, sondern Massenschicksale. Mediziner wissen das. Carl Gierstorfer zeigt uns, ausgehend vom Einzelschicksal, das Gewicht verantwortlichen Handelns. Nicht nur durch die Medien, sondern durch jeden Einzelnen."