Sascha Lobo - Laudator 2015

Sasch Lobo
Sascha Lobo. [Bild: WDR/Klaus Görgen]

"Hören Sie sich um. Draußen auf den Straßen, in den Kommentarspalten im Netz.

„Lügenpresse! Lügenpresse!“

Der Ruf schmerzt. Aber er ist in erster Linie ein Symptom. Und zwar für etwas, das uns sorgen sollte, uns alle. Denn wir sind gemeint mit diesem Ruf.

Diese Laudatio für Marietta Slomka und Eliot Higgins beginnt leider mit einer solchen Zumutung, weil dieser Umstand meiner Meinung nach Konsequenzen haben muss. Auch für diese Laudatio, die ja wie Preisverleihungen in erster Linie ein Symbol sind.

Denn ich glaube, es ist im Moment einfach nicht die Zeit für ungetrübte Presse-Lobreden.

Nirgends. Die in meinen Augen falscheste Reaktion auf „Lügenpresse!“ wäre, die Gründe für diese Haltung zu ignorieren und sich stattdessen selbst zu feiern.

Auch aus diesem Grund möchte ich das Genre der Laudatio sanft erweitern zum Subgenre der „Kritischen Laudatio“. Natürlich ohne dabei den feierlichen Anlass und die Verdienste der zu Laudierenden zu vergessen.

In Marietta Slomka und Eliot Higgins sehe ich herausragende Stellvertretende zweier Medienwelten, die auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnten.

Auf der einen Seite öffentlich-rechtliches Fernsehen, entstanden im 20. Jahrhundert und noch viel wichtiger: wegen des 20. Jahrhunderts.

Auf der anderen Seite steht etwas, was man „Recherche-Netzwerk“ nennt oder „crowdfinanzierten Bürgerjournalismus“, ein digitales Kind des 21. Jahrhunderts also.

Den einen wird ihr journalistisches Schaffen in Gesetzen und umfangreichen Staatsverträgen – aber selbstredend absolut staatsfern! – aufgetragen.

Die anderen beauftragen sich im Normalfall einfach selbst, mit allen Vor- und Nachteilen, die sich daraus ergeben.

Zwischen diesen beiden aus meiner Sicht unersetzbaren Polen spannt sich der Journalismus der Zukunft auf, mit vielen essentiellen Facetten dazwischen wie die klassischen privaten Medien oder journalistische Plattformen und neue publizistischen Technologien.

Und diese Aufspreizung, diese Erweiterung der Mittel und Möglichkeiten des Journalismus ist notwendiger denn je, davon bin ich überzeugt. Aber leider nicht nur nach außen, auf die Welt gerichtet, sondern auch nach innen, auf die Medienlandschaft selbst bezogen.

Eine Umfrage des Stern ergab soeben, dass 44% der Bevölkerung dem pauschalen Vorwurf „Lügenpresse“ mehr oder weniger zustimmen. Dass also die Medien in Deutschland, ich zitiere: "von ganz oben gesteuert" würden und deshalb "geschönte und unzutreffende Meldungen" verbreiteten. Gut, die Umfrage kommt von forsa. Aber – 

44%!

Wenn man nur für 17,50 Euro monatlich daran glaubt, dass eine funktionierende Medienlandschaft für eine Demokratie essentiell ist, dann muss man bestürzt sein dieser Zahl wegen, fassungslos, traurig – und wütend.

Wütend aber auch auf sich selbst, denn das Vertrauen in Medien ist quer durch die sozialen Schichten zerrüttet und lässt sich nicht mehr als Frage mangelnder Bildung abtun. Es hadern und verachten nicht nur die multipel Abhängten, sondern die Mitte der Gesellschaft.

Deshalb ist es allerhöchste Zeit, sich der Verantwortung der Medien selbst für das verlorene Vertrauen zu stellen. Es können ja nicht immer nur alle anderen Schuld haben.

Einen Teil der Erklärung hat Frank-Walter Steinmeier vor einem Jahr bei seiner Rede zu den Lead Awards angeboten:

„Reicht die Vielfalt in Deutschland aus? Wenn ich morgens manchmal durch den Pressespiegel meines Hauses blättere, habe ich das Gefühl: Der Meinungskorridor war schon mal breiter. Es gibt eine erstaunliche Homogenität in deutschen Redaktionen, wenn sie Informationen gewichten und einordnen. Der Konformitätsdruck in den Köpfen der Journalisten scheint mir ziemlich hoch.

Das Meinungsspektrum draußen im Lande ist oft erheblich breiter.“

Für einen anderen Aspekt habe ich eine Vermutung. Und sie hängt unmittelbar mit dem Internet und den sozialen Medien zusammen und deren Wirkung in den Köpfen.

Im 20. Jahrhundert ließ sich der Aufgabenhorizont der professionellen Medienlandschaft grob mit der Produktion von Gewissheit umreißen. „Sagen, was ist“, hat Rudolf Augstein das genannt, und in dieser kurzen Formulierung steckt eine ganze journalistische Welthaltung. Für das 20. Jahrhundert war sie vermutlich, Verzeihung, alternativlos.

Im 21. Jahrhundert aber ist vor allem durch die digitale Vernetzung etwas passiert.

Eine von mir ausgedachte, repräsentative Vergleichsstudie der Universität von Melbourne (Australien) beziffert die durchschnittliche Zahl der täglichen Kontakte mit unterschiedlichen Medien im Jahr 1990 auf 4,3.

Im Jahr 2014 lag diese Zahl bereits bei 27,8 – Tendenz stark steigend!

Als Kontrast aber noch eine echte Zahl: ein einigermaßen seriöses britisches Institut hat 2014 herausgefunden, dass der durchschnittliche Smartphone-Nutzer sein Gerät – 221 Mal am Tag aus der Tasche zieht. 221 Mal.

Wenn also nur ein einziger Eindruck aus dem Medientsunami des mobilen, sozialen und dadurch ubiquitären und allfließenden Internet in den Köpfen hängen bleibt – dann ist es die Erkenntnis: Zu jedem Thema gibt es eine unglaubliche Vielzahl von Perspektiven, Quellen, begleitenden Fakten, erhellenden Kontexten, verlinkbaren Hintergründen, Originalmaterialien, samt der jeweiligen, ständigen Wendungen und Weiterentwicklungen.

Oder übersetzt: die klassische journalistische Gewissheit hat heute einen schweren Stand.

Vielleicht passt einfach auch der Zweifel besser zum 21. Jahrhundert als die Gewissheit.

Und an dieser Stelle erinnere ich mich zugegeben spät, aber doch gerade noch rechtzeitig daran, dass dies hier eine Laudatio ist, wenn auch eine erklärt kritische.

Zum Glück aber eignet sich gerade der Brückenschlag zwischen den beiden Welten der beiden Preisträger sehr gut dazu, eine mögliche Lösung dieses Dilemmas aufzuzeigen, dass man doch der Wahrheit verpflichtet ist, aber die Gewissheiten im und mit dem Netz zu schwinden scheinen.

Und zwar lässt sich das interessanterweise und kontra-intuitiv weniger anhand der Recherche-Leistungen von Bellingcat erkennen, sondern gerade anhand einer, sagen wir Ungenauigkeit, die Bellingcat im Frühjahr unterlaufen sein mag. Es ging da um eine digital-forensische Analyse, die belegen sollte, dass russische Fotos von ukrainischen Anlagen manipuliert gewesen sein sollten.

Wie es sich im Internet gehört, habe ich mich seinerzeit mit sanfter Abfälligkeit über diesen Irrtum geäußert, der seinen Weg in eine Reihe von redaktionellen Medien fand.

Aber was sagt uns diese Episode? Und warum bilde ich mir ein, dass man sie positiv und sogar laudatio-geeignet werten kann? Weil sie davon erzählt, dass die beiden Welten der beiden Preisträger nicht nur von einander profitieren können.

Sondern sogar von einander profitieren müssen.

Ohne Leute wie Eliot Higgins mit ihrer Geschwindigkeit, dem vernetzten Einfallsreichtum und der Sachkunde in völlig neuen, technologisch getriebenen Recherchesphären ließe sich aufklärender Journalismus heute oft nur mit größten Kostenapparaten bewerkstelligen. Die, wie wir alle wissen, außerhalb des hiesigen Hausherrn WDR natürlich kaum noch zur Verfügung stehen.

Ohne Leute wie Marietta Slomka mit ihrer klassisch-redaktionellen Sorgfalt, ihrer allseits empfundenen Offizialität und der eingebauten Unmöglichkeit, von der Politik ignoriert zu werden, bleiben aber selbst die erschütterndsten Recherche-Ergebnisse ohne die erhoffte und notwendige Wirkung.

Das liegt auch daran, dass sich mit den Medien der digitalen und sozialen Vernetzung auch völlig neue Instrumente der Täuschung, der Propaganda, der Massenbeeinflussung entwickelt haben. Und viele Institutionen, Konzerne, Regierungen – nicht westliche wie auch westliche – haben eine so tiefe wie besorgniserregende Expertise in diesen Dingen entwickelt.

Als zwei Beispiele lassen sich hier die putinschen Trollfabriken nennen und auch Geheimdienstabteilungen wie die britische JTRIG, die „Cognitive Hacking“ betreibt. Um, Zitat Deutschlandradio, damit „demokratische Prozesse zu manipulieren“. Oder Einzelpersonen, Gruppen und Unternehmen diffamieren mit dem Ziel der persönlichen Zerrütung und Zerstörung.

Das wichtigste Mittel bei beiden interessanterweise: soziale Medien.

Und wie es der Zufall will, sind diese beiden antidemokratischen Instrumente ans Licht der Öffentlichkeit gekommen – durch die kombinierten Anstrengungen von modernen Aktivisten und klassischen Redaktionen.

Marietta Slomka und Eliot Higgins stehen hier deshalb nicht nur für sich, sondern sind selbst Symbole für die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit.

Eine Zusammenarbeit, die – wenn sie mit der redaktionellen Sorgfalt UND der aktivistischen Aggressivität geführt wird – dazu taugen kann, diese verstörenden 44% von der Notwendigkeit einer funktionierenden Medienlandschaft zu überzeugen.

Vielleicht ist es einfach so, dass diese Achse, die wir heute mit kritischer Begeisterung feiern wollen, diese Achse des Öffentlichen, diese Verbindung notwendig ist, um den journalistischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts überhaupt begegnen zu können.

Vielleicht ist die gewissermaßen doppelte Preisträgerschaft das schönste Zeichen dafür, dass das Ziel einer kritischen Öffentlichkeit nur gemeinsam erreicht werden kann.

Und das ist zugleich wunderbar und traurig.

Traurig, weil es implizit bedeutet, dass Medienunternehmen, Redaktionen, Journalisten auf der Strecke bleiben werden.

Aber wunderbar ist es, weil sich – wenn man genau hinschaut – eine einzigartige Chance ergibt, nicht nur einen zukünftigen Journalismus zu gestalten, sondern auch das zerrüttete Vertrauen der Öffentlichkeit in die Medienlandschaft wieder zu gewinnen.

Es geht dabei um nichts weniger als das, was Hanns-Joachim Friedrichs über den Journalismus mit einem seiner am seltensten zitierten Sätze gesagt hat (13 Googletreffer):

„Wer die Seele der Welt nicht zeigen will, in welcher Form auch immer, der wird als Journalist zeitlebens seine Schwierigkeiten haben.“

Auf die Preisträger, auf das Zeigen der Seele der Welt, auf die Zukunft des Journalismus!"