Harald Schmidt - Laudator 2001
"Sehr verehrte Frau Friedrichs, sehr geehrter Herr Gaus, sehr geehrter Herr Kluge, sehr geehrter Herr Ruge, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Nicht ist es aber die Zeit, noch sind sie unangebunden, Göttliches trifft Unteilnehmende nicht.
Das mag für manche in diesen Zeiten klingen wie Stockhausen, ist aber von Hölderlin und drunter geht es heute Abend nicht, denn wir ehren heute Abend drei Titanen. Gut, sicher, ich sage jetzt mal, das ist jetzt ein ziemlich markiger Einstieg, sozusagen Reemtsma light, aber die Aufgabe, die ich mit großer Begeisterung heute übernommen habe, ist nahezu unlösbar. Jedenfalls für mich, denn allein das bisherige Werk jedes der Herren Preisträger würde ja bereits mehrere Themenabende auf Arte füllen und wie soll man allen Dreien in den wenigen Minuten - man hat mir gesagt, wenn du unter 8 bleibst, habe ich eine Chance, dass es gesendet wird - wie soll man allen Dreien in den wenigen Minuten gerecht werden?
Meisterhaft gekonnt hätte das mit Sicherheit Hanns-Joachim Friedrichs, an den wir heute Abend auch mit diesem Preis erinnern, dessen beeindruckendste Fähigkeit für mich als Zuschauer immer war, dass er bei aller Schwere der Themen nie die Leichtigkeit in der Vermittlung hat vermissen lassen. Ich möchte deshalb gleichzeitig dem Preisträger meine große Verehrung ausdrücken und Ihnen den aktuellen Stand meiner Verwirrung schildern - beides bedingt einander - ich fühle mich ein bisschen so, als hätte ich die Idee von Alexander Kluge aufgegriffen "Eine Wanderung durch den Harz", allerdings mit dem Straßenplan von London. Nach dem 11. September, und ich finde, das ist ein ziemlich beeindruckendes neues Stilmittel bei besonders banalen Sätzen, eine historische Dimension anzutäuschen, indem man sie einleitet mit "nach dem 11. September". Nach dem 11. September lebte ich in der Illusion, ich wüsste so in etwa, was ich heute Abend hier sagen wollte. Und dann kam der vergangene Freitag, das große Interview von Willi Winkler mit Alexander Kluge in der Süddeutschen Zeitung. Und es erschienen in diesem Interview in der Reihenfolge des Auftretens Enzensberger, Diderot, Dreißigjähriger Krieg, Clausewitz, Kleist, Napoleon, Kant, Kingkong, Marx, Hitler, Titanic, Der Boxeraufstand, Josef Conrad, Odysseus, Heiner Müller und Karl Krauss - alle in einem einzigen Interview. Danach musste ich mich auf die Couch legen, um den Schwindel zu dämpfen. Das ist es, wofür die Zuschauer Alexander Kluge schätzen. Aber manchmal lehrt er uns damit natürlich auch das Fürchten. Wie kann bitte ein einzelner Mensch das nicht nur alles wissen, sondern im Bedarfsfall auch abrufen? Wie stark müssen Augen sein, die nicht nur das Menetekel an der Wand sehen, sondern auch noch das Kleingedruckte da drin lesen können. Gerade haben wir uns erst einigermaßen in unserer Paranoia eingerichtet, jetzt wird uns die Metanoia abverlangt. Metanoia bedeutet aber, wem sage ich das hier heute Abend, Nachdenken, Umkehr. In Zeiten, in denen die wahren Helden Feuerwehrleute sind, bedeutet Metanoia laut Alexander Kluge, dass an Schulen eigentlich nicht mehr das ABC unterrichtet werden sollte, sondern das Löschen. Das hat mir sehr gut gefallen, das hat mich an meine eigene Schulzeit erinnert.
Und wirklich die frühesten Eindrücke von Politik, die ich als Kind hatte, hängen zusammen mit den Personen Günter Gaus und Gerd Ruge. Sie wissen das vielleicht, in meiner Kindheit war die Welt noch in Ordnung. Es musste nicht ständig alles neu bewertet werden, der Russe war noch böse, bei Hitler war nicht alles schlecht und außer meiner Oma durfte niemand aus unserer Familie in die Ostzone reisen und vor allen Dingen auch wieder raus. Und plötzlich gab es Günter Gaus. Der war jünger als mein Vater. Und der fuhr in die Ostzone rein und wieder raus, als Westdeutscher, ohne dass auf ihn geschossen wurde. Das hat mich damals enorm beeindruckt. Ebenso wie sein Titel "Ständiger Vertreter", was ich immer empfunden habe als eine Art Botschafter in Gänsefüsschen. Und wir haben kürzlich lesen können, Sie sprachen über diese besondere Situation auch bei Huhn und Salat, im Hause Springer, Sie wendeten sich dann anderen Themen zu. Ostzone, Russland, das war damals die Zeit der uneingeschränkten, ich betone: uneingeschränkten Solidarität zwischen diesen beiden Staaten. Und erlauben Sie mir bitte eine Formulierung als Nabokow für Arme, wenn ich an das Russland meiner Kindheit denke, wenn ich an das Russland meiner Kindheit denke, dann fallen mir vor allem zwei Kopfbedeckungen ein, nämlich der Hut von Andrej Gromyko und die Pelzmütze von Gerd Ruge, mit der Sie immer vor dem Kreml standen. Ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob Sie überhaupt jemals mit einer Pelzmütze vor dem Kreml standen, aber dieses Bild hat sich in mir sehr festgesetzt, weil es mich als Kind beruhigt hat. Denn wenn ich den mit dem Hut sah, der sah zwar finster aus, aber ich dachte immer, solange Gerd Ruge mit seiner Pelzmütze da steht, ist es vielleicht doch so, dass wir bald an Heilig Abend keine Kerzen mehr ins Fenster stellen müssen. Manchmal äußere ich dann solche tiefen Gedanken auch auf der elterlichen Couch laut, dann hieß es: ruhig! Wir wollen den Ruge hören! Keiner kennt Russland so wie der Ruge, sagten immer sämtliche älteren Herren in meiner Verwandtschaft und sie wussten es, denn sie kannten ja Russland aus eigener Anschauung.
Ich habe dann bei der Vorbereitung hierfür festgestellt, dass die Zeit von Günter Gaus in Ost-Berlin unmöglich mit der Zeit von Gerd Ruge in Moskau zusammen gefallen sein kann. Ich habe auch festgestellt, dass, als ich das gesehen habe, ich ungefähr 27 oder 28 schon gesehen sein musste, die ganze Nummer mit der Kindheit könnte ich eigentlich streichen. Dann habe ich aber zum Glück bei Alexander Kluge gelesen: Die Zerdehnung der Zeit hat etwas tröstliches. Und da fiel mir ein, heute Abend ist Vermischung von Fiktion und Realität geradezu unerlässlich. Kein Mensch kann aufzählen, was ein Journalist wie Gerd Ruge in seinem langen Berufsleben alles gemacht hat. Für den Zuschauer ist es glaube ich auch gar nicht so wichtig, wo Gerd Ruge steht, sondern wofür. Nämlich für Kompetenz, für Leidenschaft und für Glaubwürdigkeit. Ein Millionenpublikum, von dem die meisten Unterhaltungssendungen nur träumen können, schaut sich Ihre Reiseberichte an, weil man hinterher zumindest ein kleines bisschen mehr Ahnung zu haben glaubt von dem, was in der Welt so vor sich geht. Vor allem in Zeiten, in denen wir aus Afghanistan vorwiegend jeden Abend nichts sehen als das grüne Leuchten.
Wenn es nicht das grüne Leuchten ist, dann sehen wir bärtige Männer mit Turban im Gebirge Waffen schleppen. Aber welcher Fernsehzuschauer kann im Fernsehen Taliban von Nordallianz unterscheiden? Ich hatte schon den Eindruck, wenn Material knapp ist, wird im Zweifelsfall auch Text aus Afghanistan mit Bildern von der UCK funktionieren. Und plötzlich zappt man an solchen ratlosen Abenden herum und ist wieder bei Alexander Kuge, News and Stories. Und dort treffen wir auf einen Kriminalsoziologen, der uns erklärt, was das Neue an dieser Form von Terrorismus ist, nämlich, es ist Macho-Terrorismus. Reiner Männer-Terrorismus. Damals, vor dem 11. September, bei der RAF gab es zumindest noch Frauen. Und schon ist man mitten in einem Thema, an das sich die Talk-Shows noch nicht herantrauen: Terrorismus mit weiblichen Antlitz.
Ich möchte an dieser Stelle den sehr, sehr, sehr zarten Hinweis riskieren, bei einem tiefen Einblick in meine Denkstruktur, dass in aufgeklärten deutschen Frauenzirkeln nach einer Phase der unmissverständlichen Ablehnung von Gewalt mittlerweile sehr vorsichtig, sehr tastend, fast konspirativ nach der Wirkung von Bin Laden auf Frauen gefragt wird. Stichwort: diese sanften Augen.
Was bleibt sind Fragen. Warum zum Beispiel hat noch kein Fernsehsender Alexander Kluges Vorschlag aufgegriffen, Big Brother nachzuspielen mit Personal der Reichskanzlei? Warum werden nicht in Schulbüchern zumindest für die, wo bald Abi machen, ausgewählte Interviews von Günter Gaus aufgenommen. Nicht nur ihr Lieblingsgespräch mit Hanna Ahrend, sondern auch das mit Gustav Gründgens, mit Edward Teller, mit Arthur Köstler und, einer meiner persönlichen Favoriten, mit Erich Mende. Ja, der uns schon 1964, als hätte er den überwiegenden Politikertypus von heute vorausgeahnt, 1964 hat er uns den Satz geschenkt: wer sein Haar jeden Morgen nass macht, bei dem liegt es auch.
Meine sehr verehrten Herren Preisträger, nochmals meinen allerherzlichsten Glückwunsch für diese Auszeichnung - und bitte, stellen Sie Ihr Wissen, Ihr Können und Ihre Autorität noch sehr lange uns, den Verunsicherten, zur Verfügung.
Herzlichen Glückwunsch und vielen Dank."