Key-Note des Schweizer Publizisten Roger de Weck
(gehalten anlässlich der Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises am 14. November 2024 beim NDR-Fernsehen in Hamburg)
Roger de Weck ist Autor von »Das Prinzip Trotzdem – Warum wir den Journalismus vor den Medien retten müssen« (Suhrkamp 2024)
"Was ist Journalismus?
Es ist Informationen suchen, prüfen, überprüfen, analysieren, situieren, gewichten, darstellen, erklären, eventuell aktualisieren und bei Bedarf korrigieren. Das ist seriöse Verarbeitung von Information.
Daraus folgt: Journalismus ist an sich nüchtern. Der Medienbetrieb mit seinen Content Managern aber bewirtschaftet Emotionen.
Journalismus ist faktenorientiert. Der Medienbetrieb seinerseits – das ist nicht zu übersehen – ist meinungsgeladen.
Der Journalismus hält Abstand: zum Gegenstand der Berichterstattung, zu den Machtträgern, in gewisser Weise auch zum Publikum, während der Medienbetrieb dazu neigt, sich den Nutzerinnen und Nutzern anzubiedern.
Dem Journalismus sind strukturelle Entwicklungen wichtig. Der Medienbetrieb vernachlässigt oft Strukturen und Institutionen zugunsten der Personalisierung, auf die Spitze getrieben im Star-System.
Der Journalismus als Kind der Aufklärung sucht den erkenntnisorientierten Dialog. Der Medienbetrieb setzt oft und gern auf den Schlagabtausch, dem Spektakel, dem aber wenig Erkenntnis abzugewinnen ist.
Meine Damen und Herren, dieser mediale Hochbetrieb schwächt tendenziell den Journalismus. Und er stärkt tendenziell den Populismus.
Denn die Populisten spielen ebenfalls mit Emotionen, Aufregung und Erregung,
- auch sie biedern sich an,
- auch sie personalisieren alles und jeden,
- auch sie suchen den Schlagabtausch,
- ganz zu schweigen davon, dass sie in großer Faktenarmut leben, mit einem gewaltigen Meinungsüberschuss.
Mit anderen Worten kann der Medienbetrieb sehr wohl die Feinde der offenen Gesellschaft stärken und paradoxerweise die Feinde der Pressefreiheit.
Aufregung ist das Gegenteil von Aufmerksamkeit. Aufmerksam ist der Mensch, der konzentriert liest, hört, zuschaut. Ist er aber aufgeregt, überfliegt er bloß das Angebot auf die Schnelle.
Derzeit freilich erleben wir eine mediale Zeitenwende von der Aufmerksamkeitsökonomie zur Aufregungsökonomie.
Um Beachtung zu finden,
- wird auch Banales in dramatische Worte gekleidet;
- werden kleine Fehler skandalisiert;
- wird Nebensächliches zur Sensation erhoben;
- ist da immerzu der Kick zum Klick.
Das ist es, was ich die »Boulevardigitalisierung« nenne.
Doch in sowieso überreizten Zeiten wirkt die allgemeine mediale Nervosität kontraproduktiv.
Kurzfristig mag alles Reißerische Klicks und Quoten maximieren. Langfristig aber verweigert sich ein Teil des Publikums der permanenten und zermürbenden Erregung; still und leise gehen viele auf Abstand zu der medialen Aufregungsmaschine, rasch steigt die Zahl der Nachrichtenvermeider.
Das wiederum verleitet die erwähnten Content Manager, alle Kniffe anzuwenden, um trotzdem noch mehr Klicks zu »generieren«, wie sie sagen.
Ein Teufelskreis.
Die Aufregungsökonomie verringert Gewicht und Geltung eines Journalismus, der als Vierte Gewalt ohnehin geschwächt ist, seit er seinen Vorrang als Gate Keeper (als »Türhüter«, der die Informationen sucht und dann ausliest) verloren hat.
Viele Medienleute denken, alles, was sie tun, diene der Demokratie. Aber dem ist nicht immer so, nicht durchweg, nicht automatisch.
Journalismus trägt Mitverantwortung für die Qualität der öffentlichen Debatte.
Und wird ebendiese Öffentlichkeit lädiert, hat das Folgen, siehe die USA. Meine Damen und Herren, wie haben unsere Eltern uns zu erziehen versucht, und wie versuchen wir unsere Kinder zu erziehen? Wir möchten, dass sie ehrlich sind, anständig bleiben und Rücksicht zu nehmen wissen. Die Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner jedoch hat einen erwiesenermaßen unehrlichen, unanständigen und rücksichtslosen Präsidenten gewählt.
Dazu haben handfeste gesellschaftliche und wirtschaftliche Gründe beigetragen, aber auch der Verbund von Murdoch-Boulevard und Musk-X-tremismus.
Anders gesagt: Medien beeinflussen durchaus die Voraussetzungen von Demokratie:
- die politische Kultur;
- die Sachlichkeit der Debatte;
- die Qualität der Meinungsbildung;
- die entsprechende Lernbereitschaft der Bürgerinnen und Bürger;
- ihren mehr oder minder ausgeprägten Gemeinsinn;
- und den Zusammenhalt des Gemeinwesens,
kurzum die Kraft der Demokratie.
Das spricht nicht für staatstragende Medien, wohl aber für einen demokratie-tragenden Journalismus.
Da haben die Öffentlich-Rechtlichen eine besondere Verantwortung.
Haltung bekundet der Journalismus durch Unabhängigkeit, nicht durch langweilige, berechenbare Voreingenommenheit.
Unabhängiger Journalismus hat keine Wahrheit zu bieten – er will die Fakten wissen, anhand derer sich dann jede Bürgerin, jeder Bürger die Meinung bilden kann.
Heute ist es wichtiger denn je, die Kraft der Fakten, die Vormacht des Faktischen zu behaupten.
Denn in einer postfaktischen Gesellschaft würde der Journalismus vollends auflaufen.
Deshalb erweist er sich selbst und der Gesellschaft keinen Dienst, wenn er die sozialen Medien nachahmt, von denen viele ein Tummelplatz des Postfaktischen sind.
Ich kehre an den Anfang zurück. Von allen journalistischen Aufgaben wird in sozialen Medien vorwiegend die eine und fakultative wahrgenommen: das Kommentieren, Kommentieren und nochmals Kommentieren, bis jede Meinung buchstäblich X-beliebig wird. Nicht zu übersehen ist hier der postfaktische Zug.
Als er 2021 Friedensnobelpreis erhielt, sagte dagegen der Russe Dmitri Muratow, Gründer der Novaya Gazeta: »Wir sind Journalisten, unsere Aufgabe ist klar: zu unterscheiden zwischen Fakten und Fiktion.«
Den Nobelpreis teilte er sich mit der philippinischen Investigativjournalistin Maria Ressa. In ihrer Rede sagte sie: »Ohne Fakten keine Wahrheit. Ohne Wahrheit kein Vertrauen. Ohne Vertrauen haben wir keine gemeinsame Wirklichkeit, keine Demokratie.«
Zu dieser gemeinsamen Realität haben mit ihrem Können, ihren Recherchen, ihrem Handwerk, mit ihrem Wissen und Gewissen die Preisträgerin Eva Schulz und die Preisträger Jan Lorenzen, Fabian Köster, Lutz van der Horst und Paul Schwenn beigetragen: Glückwunsch!"