Key-Note des ZEIT-Chefredakteurs Giovanni di Lorenzo über den Zustand des Öffentlich Rechtlichen Rundfunks

(gehalten anlässlich der Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises am 10. November 2022 beim NDR-Fernsehen in Hamburg)

 

"Liebe Preisträgerinnen, liebe Preisträger
hochgeschätzte Kolleginnen und hochgeschätzte Kollegen,   

wer heute Hanns-Joachim Friedrichs zitiert, der greift meist auf einen Satz zurück, der längst zum geflügelten Wort geworden ist. Sie kennen es alle – und Sie wissen auch, worum es geht. Im selben Interview, aus dem das stammt, sagte Friedrichs aber noch etwas anderes, das mich sehr berührt, weil es so wirkt, als sei es gerade eben erst geschrieben worden, für diese letzten Monate in denen die Menschen von der Flut der schlechten Nachrichten geradezu überrollt werden. Auf die Frage, ob es ihn gestört habe, als Moderator ständig den Tod präsentieren zu müssen, sagte Friedrichs: „Wer die Seele der Welt nicht zeigen will, in welcher Form auch immer, der wird als Journalist zeitlebens seine Schwierigkeiten haben.“ Das meint nicht, dass besonders sensible Menschen unserem Beruf nicht gewachsen sind, im Gegenteil. Aber wir Journalisten müssen die Welt eben so zeigen, wie sie ist – selbst wenn die Bilder uns auch nach Redaktionsschluss nicht loslassen. Wie schwer das manchmal ist, weiß wohl niemand besser als die heute Abend hier ausgezeichneten Kolleginnen und Kollegen, allesamt hervorragende Journalistinnen und Meister ihres Faches.
Bevor wir sie alle aber hochleben lassen, habe ich eine kleine Herausforderung zu meistern, an der jede Seele, ob sensibel oder weniger sensibel, nur eklatant Schaden nehmen kann. Ich bin nämlich gebeten worden, etwas Grundsätzliches zum Zustand des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks zu sagen. Die Jury schickte ihre härteste Vertreterin vor, die Widerspruch, wenn überhaupt, nur theoretisch kennt: Sie schickte Sandra Maischberger. Und so stehe ich hier jetzt, ich kann nicht anders, und muss Sie, als ob es nicht schon genug schlechte Nachrichten gäbe, mit der Krise des Öffentlich-Rechtlichen Systems behelligen.

Das Thema bewegt mich, da werde ich sehr emotional.

Ich bin ja mit diesem System großgeworden: Als Zuschauer und seit 1984 immer wieder auch als Moderator habe ich dabei nicht nur die vielen Probleme darin kennengelernt, sondern auch die glanzvollen Seiten: Die große Wirkung, die Glaubwürdigkeit, den Qualitätsanspruch. Die vielen wunderbaren Kolleginnen und Kollegen, für die die Arbeit an den Sendungen nicht Job ist, sondern Berufung.
Schon allein deswegen will ich heute niemandem die Leviten lesen, sondern Ihnen ein paar Wünsche mit auf den Weg geben. Das Gute an Wünschen ist ja: Manchmal gehen sie auch in Erfüllung.

Mein erster Wunsch:
Kommen Sie raus aus der Defensive!

Wann immer es kriselt, das Reaktionsmuster ist gleich: Man duckt sich weg, hofft, dass sich die Dinge wieder beruhigen, ist froh, wenn es einen nicht selbst erwischt. Aber das funktioniert schon lang nicht mehr. Sie müssen endlich raus aus dieser Verteidigungsspirale. Jetzt werden Sie zurecht fragen, wie? Ich fürchte, es geht nur durch den Mut, sich zu exponieren. Sie haben so viele starke, glaubwürdige, bekannte Persönlichkeiten – der Blick in diesen Saal ist ein eindrucksvoller Beleg dafür. Aber Sie müssen Ihre Stimmen auch einsetzen! Bei der ZEIT haben wir Anfang September für eine Titelgeschichte von Fernsehmenschen wissen wollen, was beim Öffentlich-Rechtlichen besser werden soll. Es hagelte Absagen. Wir brauchen aber Menschen, die sich zur Speerspitze von Veränderungen machen. Sie werden einwenden: Aber genau das haben doch ein Kai Gniffke oder Tom Buhrow gerade gemacht. Und da sage ich: Das ist auch gut so! Jedenfalls sehr viel besser als schweigen. Auch wenn so oft, wenn aus der Hierarchie Vorschläge kommen, es sofort Kritik und Häme frei Haus gab. Und manche Kritik hatte durchaus ihre Berechtigung – zum Beispiel die Form und der Zeitpunkt der Buhrowschen Thesenanschläge. Auch wurde ein wichtiger Punkt ausgespart, vielleicht der wichtigste: Wie sich die Qualität des Programms verändern kann. Aber darauf werden wir noch zu sprechen kommen. Grundsätzlich gilt: Wer sich nicht selbst verändert, der wird verändert.       

Zweiter Wunsch:
Haben Sie bitte keine Angst vor Kritik!

Ja, ich weiß, wer es alles mit den Öffentlich-Rechtlichen schlecht meint in diesen Zeiten. Die Delegitimierung des Systems ist mittlerweile weltweit ein Merkmal der populistischen Rechten geworden. Und längst kochen auch gemäßigtere Politiker ihr parteipolitisches Süppchen. Und doch sollte es noch viel mehr Kritik geben. Und zwar aus den eigenen Reihen. Je mehr das der Fall sein wird, desto mehr kommen Sie auch wieder aus der Defensive heraus, weil Sie so den Diskurs bestimmen. Gründen Sie doch in jeder Anstalt ein Wandel-Team, besetzt mit Kolleginnen und Kollegen aus allen Abteilungen - aus der Verwaltung wie aus den Redaktionen! Lassen Sie eine Inventur der Missstände zu – und hören Sie auf die vielen Vorschläge zur Verbesserung! Sie werden staunen, was da für Schätze geborgen werden können. Wer aus den eigenen Reihen übrigens Kritik äußert, ist alles andere als ein Nestbeschmutzer. Nur, wer sich stellt, kann am Ende den Gegner auch entwaffnen!

Wobei ich bei Wunsch Nummer drei wäre:
Ändern Sie, was niemandem mehr zu vermitteln ist.

Man kann das System grundsätzlich für reformunfähig erklären, weil jeder jeden blockieren kann: Die Politik sieht die Sendeanstalten in der Pflicht – die Intendanten wiederum die Politik. Tom Buhrow vergleicht den sich daraus ergebenden Stillstand mit dem Mikado-Spiel. Das ist wahrscheinlich alles richtig, aber es hilft jetzt niemandem weiter. Nein, Sie können bestimmte Dinge nicht von jetzt auf gleich ändern. Deshalb wirken einige Vorschläge zur Reform, die man in diesen Tagen liest, auch reichlich weltfremd. Aber es gibt Dinge, die Sie tatsächlich niemandem mehr vermitteln können. Warum müssen die obersten Chefinnen und Chefs Renten beziehen, die höher nur noch bei ehemaligen CEOs von Großkonzernen sind? Warum werden einige Hierarchen mit exorbitanten Ruhegeldern abgesichert, für den Fall, dass sie abgesetzt werden? Ich bin nicht für karge Gehälter. Es muss möglich sein, außerhalb des eigenen Systems fähige Manager zu finden und gute Moderatoren von den Privaten abzuwerben, aber man darf selbst als Star beim Öffentlich-Rechtlichen nicht reich werden. Wann, wenn nicht jetzt können Sie etwas bewegen? Oder braucht es allen Ernstes noch mehr Leidensdruck?

Die Vorschläge sind doch auch schon da: Könnte Deutschlandradio Kultur zum Beispiel nicht Programm für regionale Kultursender liefern? Wäre eine einzige gemeinsame öffentlich-rechtlichen Mediathek nicht sinnvoll? Würde EINE Reisekostenstelle für alle in der ARD Sinn machen? Braucht es 16 Musikensembles innerhalb der ARD? Könnten nicht neue Versuche unternommen werden, dass die Verwaltungen einzelner kleiner Sender stärker zusammenarbeiten?
Es ist doch eigentlich auch eine Selbstverständlichkeit, dass Kontrollgremien so ausgestattet sein müssen, dass sie ihren Namen auch verdienen. Die von den Grünen entsandte NDR-Rundfunkrätin Eva Hubert brachte es kürzlich auf den Punkt, ich zitiere: „Es ist derzeit so, als würde ein Schiedsrichter aus der Dritten Liga ein Spiel in der Ersten Liga pfeifen.“ (Zitat Ende) Und schließlich: Geben Sie sich in der ARD endlich die von Tom Buhrow in Aussicht gestellten einheitlichen Compliance-Regeln. Die haben inzwischen fast alle Großunternehmen – und sie sind dadurch nicht schwächer, sondern stärker geworden.

Vierter Wunsch:
Wagen Sie mehr Vielfalt!

Es ist ein offenes Geheimnis, dass das Meinungsspektrum bei den Redakteurinnen und Redakteuren eng geworden ist. Das Öffentlich-Rechtliche muss nun wirklich nicht Rechtsradikalen, Extremisten, Verschwörungstheoretikern und anderen politischen Spinnern eine Bühne bieten oder sie gar einstellen – ich bitte Sie. Aber kann man nicht zum Beispiel gegen das Gendern, gegen die Maskenpflicht, für Atomkraft, gegen das Bürgergeld oder gegen den weiteren Ausbau von Windrädern sein? Das sind alles Ansichten, die ich nicht teilen muss und auch kein anderer in diesem Saal. Aber es sind legitime und auch weit verbreitete Positionen, an denen sich der eigene Standpunkt durchaus schärfen kann. Doch diese oder auch andere konservativere Positionen finden sich kaum in den Kommentaren der Öffentlich-Rechtlichen. Aber wer von allen Geld für das Programm verlangt, der muss auch die Einstellung und Standpunkte der großen Mehrheit mit abdecken.
Und glauben Sie mir: Meinungsvielfalt und weniger Parteinahme in Magazinen und Anmoderationen, also weniger betreutes Sehen, werden das Öffentlich-Rechtliche nicht verwässern, sondern glaubwürdiger machen. Die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer schätzen das nämlich sehr.

Fünfter und letzter Wunsch:
Führen Sie eine Diskussion darüber, wie der Programmauftrag der Zukunft aussehen soll.

Jeder eingesparte Euro gehört ins Programm! Was Sie für ein Programm haben wollen, welches Sie sich noch leisten können, das müssen Sie genauso offen und furchtlos diskutieren wie die Frage nach den Strukturen des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks. Brauchen Sie weiterhin so viel Unterhaltung? Ich persönlich meine ja. Weil man auch mit den wunderbarsten Nachrichtenformaten und Dokumentationen nicht genug Reichweite erzielen kann, die wiederum entscheidend ist für die Legitimierung des Systems. Und weil Fernsehen und Radio, das ist mir ein ganz wichtiger Punkt, nicht nur für die gebildeten Stände gemacht werden darf. Ob man so viele Krimiformate braucht? Ich meine, nein. Ob Sie weiter so viel Geld für Sportrechte ausgeben müssen, da bin ich, obwohl ich selbst geradezu süchtig bin nach der Übertragung von Sportereignissen, dezidiert der Meinung: nein! Es ist langsam gelernt, dass man für Sport extra bezahlt. Und, ganz nebenbei bemerkt: Bei der Vorstellung, welche Sportverbände durch öffentliche Gebühren mitfinanziert werden, wird mir manchmal speiübel.
Und dann noch die Gretchenfrage: Brauchen wir so viele Nachrichtenformate? Ich finde: Unbedingt! Denn sie sind das Herz des Öffentlich-Rechtlichen, das letzte Lagerfeuer des Fernsehens. Wir brauchen auch Dokumentationen, die sich so nur noch das Öffentlich-Rechtliche leisten können. Davon kann es gerne mehr geben!
Und wir sollten in allen Medien, erst recht in den Öffentlich-Rechtlichen, den Menschen besser erklären, was gerade politisch diskutiert wird, insbesondere in diesen schwierigen Zeiten. Von mir aus kann es jeden Tag nach der Tagesschau oder Heute-Sendung einen kurzen Fünf-Minuten-Brennpunkt geben zu einem Stichwort, das gerade Thema ist oder war in den Nachrichten – Gaspreisbremse, Bürgergeld oder Weltklimagipfel... Das ist immer noch die beste Antwort auf Fake-News.

Sie haben gemerkt: Mein Wunschzettel ist ziemlich umfassend. Aber der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk ist ja auch so wichtig und durch nichts zu ersetzen: Wer soll denn sonst, um nochmal Hanns-Joachim Friedrichs zu zitieren, die Seele der Welt ausleuchten? Mein allerletzter Wunsch wäre deshalb: Dass der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk aus seiner Krise stark und erneuert hervorgeht. Und aus seinem großen Potential das Beste rausholt: Wenn nicht jetzt, meine Damen und Herren - wann dann?"