Der letzte Geburtstag
Hermann Schreiber über den Tod von Hanns Joachim Friedrichs
Die 15 oder 20 Menschen, die sich an einem kalten, mit Schnee garnierten Märztag 1995 am Sterbelager des Fernsehjournalisten Hanns Joachim Friedrichs versammelten, wußten, daß dies der letzte Geburtstag des Freundes sein würde. Seine Tumor-Krankheit hatte, schneller als erwartet, das Endstadium erreicht. Aber wie feiert man den Geburtstag eines Sterbenden? Konnte es noch irgend etwas geben, das ihn an einem solchen Tag erfreuen würde? Wenn überhaupt, dann konnte es nur etwas sein, das über diesen Tag hinaus Bestand hatte.
Ein paar Tage vor diesem Geburtstag taten sich ein gutes Dutzend alter persönlicher Feunde, zu denen ich gehörte, zusammen und stifteten in Friedrichs' Namen einen Preis für Fernsehjournalisten, der von einem eigens gegründeten Verein nun alljährlich verliehen werden soll. Diese Stiftung - schön formuliert in einer Urkunde und in eine edle Ledermappe gesteckt, in die sein Name geprägt war - sollte unser Geschenk sein zu seinem Geburtstag und unser Beitrag zu seinem Andenken.
Als der "Verein" sich am Spätnachmittag des 15. März 1995 in Friedrichs' Wohnung in der Hamburger Abteistraße versammelte, erwartete Hanns uns nicht, wie erhofft, in den Wohnräumen. Er war schon zu schwach aufzustehen, und es war zunächst auch nicht klar, ob er noch wach genug sein würde, uns alle wahrzunehmen. Dennoch kamen wir nicht in ein stilles, von ängstlicher Erwartung gelähmtes, sondern in ein ganz lebendiges Haus, in dem auch das Lachen nicht verstummt war. Das lag an der großen, verzweigten, auch recht kinderreichen Familie von Ilse Madaus, der Frau, mit der Hanns seine letzten Jahre in bemerkenswerter Harmonie verbracht hat. Es waren nicht nur Ilses Kinder samt Ehegatten, sondern auch einige von Ilses Enkeln da und verschafften Nelson, dem Hund des Hauses, einem ebenso kräftigen wie folgsamen Labrador-Boxer, die sehr erwünschte Bewegung. Alles war vorbereitet für eine kleine Party, und als die Gäste versammelt waren, gingen wir ins Schlafzimmer und drängelten uns um das Bett des sterbenden Freundes.
So ähnlich muß das früher gewesen sein, als das Sterben noch nicht verbannt war und das Abschiednehmen noch der Familie gehörte und den Freunden. Hanns war sehr still, aber durchaus präsent und trug seine Schwäche klaglos, nur ein bißchen betreten, wie einen Anzug, der schon mal besser gesessen hat. Die Nähe, die wir alle zu ihm und auch zueinander empfanden, lag gewiß nicht nur an der Enge des Raumes. Vielleicht waren wir befangen, aber die meisten Anwesenden waren Journalisten oder Medien-Menschen, denen Befangenheit so fremd ist wie Pathos, und also redeten wir miteinander wie immer, nur viel herzlicher. Ulrich Wickert, der Vereinsvorsitzende und Friedrichs-Nachfolger bei den Tagesthemen, las die Stiftungsurkunde vor, und zu den künftigen Verleihungen des Preises sagte er: "Wo immer du dann auch sein wirst, Hanns, du wirst dabei sein." Dann tranken wir einen Schluck Champagner und sangen, so gut es eben ging, "Happy birthday". Ja, natürlich haben wir auch geweint, alle irgendwann mal, auch Hanns - aber nicht verzweifelt und auch nicht deprimiert, sondern eben in jener "höheren Bewußtheit des umgebenden Gefühls", die von diesem Menschen ausging, von dem wir Abschied zu nehmen hatten.
Und dann gab es doch noch eine richtige Geburtstagsfeier, mit Snacks und Smalltalk und allerhand Gelächter. "Es gab wunderbar leichte Gespräche manchmal", hat einer der versammelten Freunde, Jürgen Leinemann, später gesagt, "von einer befreiten Heiterkeit, wie sie nur im Wissen um den nahen Tod aufkommt. Liebevoll und getragen von zärtlicher Aufmerksamkeit füreinander." Während der Trainer Otto Rehagel und der fußballkundige Theatermann Jürgen Flimm sich in ein Fachgespräch mit dem ehemaligen Sportstudio-Moderator Friedrichs verwickelten, gingen die übrigen Gäste zum Buffett und kamen nach und nach mit ihren Tellern und ihren Gläsern wieder ins Schlafzimmer. Es wurden Stühle geholt und volle Flaschen, und schließlich biwakierten wir zwei oder drei Stunden am Bett und auf dem Bett des Todkranken und genossen diese Gemeinsamkeit, als wären wir so freundschaftlich noch nie beisammen gewesen und würden es auch nie wieder sein. Leinemann hat das in seiner Totenrede so beschrieben: "Es waren aber auch wir die Beschenkten. Wir haben dir, du hast uns ein Fest bereitet."
Daß er einen inoperablen Lungenkrebs mit Metastasen in der Leber hatte, das wußte Hanns Joachim Friedrichs mit letzter Sicherheit seit dem 27. Dezember 1994. Darauf gefaßt gemacht hat er sich spätestens während der vielen Untersuchungen, die dem Ereignis vorangingen, das er "die Urteilsverkündung" nannte. Wer in den Tagen des Jahreswechels 1994/1995 mit ihm telefonierte, hörte den Todkranken sagen: "Ich fühle mich doch gar nicht so. Ich sehe auch nicht so aus. Und ich hätte ja ganz gern noch ein bißchen länger gelebt." Aber er sagte auch: "Es ist vorbei. Ich bereite mich auf den Tod vor." Und er sagte: "Ilse und ich werden jetzt heiraten."
Gehandelt hat er sofort, gehadert fast nie. Er hat nicht resigniert, aber aufbegehrt auch nicht. Die Mediziner sollten ihre Chance haben, den Versuch einer Chemotherapie eingeschlossen. Aber daß ihnen ein Wunder gelingen würde, hat der Patient nie geglaubt. Er hoffte allenfalls auf eine Verlängerung und auf relative Beschwerdefreiheit. Für den März war eine Golfreise an die Algarve gebucht; sie wurde erst im Februar abgesagt. Und gleich nach der "Urteilsverkündung" fuhren Hanns und Ilse zu Silvester in ihre Sylter Wohnung.
Jürgen Leinemann und seine Frau waren bereits auf der Insel, und so wurden sie zu Gefährten dieser letzten Wegstrecke. In seiner Totenrede hat Leinemann dies den übrigen Freunden und Weggefährten, die in der kleinen Kapelle auf dem Friedhof im Hamburger Stadtteil Nienstedten versammelt waren, so erzählt: "Hanns wollte am Schluß seines Lebens keine losen Enden herumbaumeln sehen, wie er sagte, 'no unfinished business'. Zielstrebig leitete er die Trauung mit Ilse ein. Er wollte Heimat haben. Und Eindeutigkeit. Und das hat er so unverkrampft ausgestrahlt, daß sich der freundliche Standesbeamte Buttgereit in Westerland nicht scheute, von 'der kurzen Zeit' zu sprechen, 'die Ihnen bleibt'. Er wünschte Glück, mehr nicht. 'Was soll ich Ihnen denn schon vom Leben erzählen', sagte der Beamte, der mit liebevoller Beharrlichkeit eine bürokratische Hürde nach der anderen wegzuräumen hatte, bevor die schnelle Heirat möglich wurde. 'Sie wissen doch beide so viel mehr davon als ich.' Es war ein eiskalter Januartag auf der Insel. Zur Trauung schlichen wir nach Feierabend ins Standesamt neben dem Spielcasino - das Brautpaar, Ilses Bruder Gerd, seine Frau Evelyn und wir. Kein Mikrophon, kein Notizblock, keine Fotografen weit und breit. Das hatte auch was von einem gelungenen Coup. Es gibt kein Foto von der Zeremonie, nicht einmal ein privates. Nur Erinnerungen. Dann kam sofort das Fieber. Wie ein Überfall. Wir haben noch kurz angestoßen in Munkmarsch (in Friedrichs' Wohnung), da klapperten Hajo schon die Zähne."
Der Coup auf dem Standesamt von Westerland war natürlich auch ein Affront - gegen die Boulevardpresse, die alles getan hätte, um an die Fotos und an die Schlagzeilen zu kommen, mit denen die späte Hochzeit des todkranken TV-Stars dann vermarktet worden wäre. Es gibt noch mehr solche Affronts in den letzten Äußerungen des Hanns Joachim Friedrichs, besonders in dem Aufsehen erregenden, eine Woche vor seinem Tod geführten und einen Tag vor seinem Tod erschienenen Spiegel-Gespräch - die Erwähnung "irgendeines journalistischen Strichjungen aus der ARD-Hierarchie" zum Beispiel, oder seine Erklärung der Bildschirm-Popularität, die ausschließlich auf "Frequenz" beruhe: "Du kannst so dumm sein, daß dich die Schweine beißen, du mußt nur jeden Tag so dumm sein, daß dich die Schweine beißen." Das ist in den hochgestimmten Nachrufen kaum zitiert worden, ist aber erinnernswert, denn es zeigt, daß dieser Mann am Ende seines Lebens durchaus auch an den Antagonismen festhalten wollte, mit denen er umgegangen war, die er vielleicht sogar geschaffen hatte, weil er sie notwendig, mindestens in Ordnung fand. In der Tat hat er auch auf dem Sterbebett keinerlei Neigung gezeigt, zerbrochene Freundschaften mit einem wohlfeilen Wort der Versöhnung im Angesicht des Todes wieder "einzurenken", wenn er fand, daß sie zu recht zerbrochen seien. Er war auch in diesem Betracht mit sich im reinen.
"Hajo", dieser Sonntagsjunge, hat den Sinn seines Sterbens in seinem Leben gefunden. Er hatte alles getan, was er tun wollte, und also barg das Ende keinen Schrecken für ihn. "So ist das nun, und so mußt du das nehmen. Was wirklich Wichtiges versäume ich nicht." Er war ein Hanns im Glück und ist es bis zuletzt geblieben. Oder wie sonst soll man erklären, daß ein Mann Ende sechzig, der den größten Teil seiner Zeit als begehrter Junggeselle "in Gesellschaft angenehmer Damen" zugebracht hat, zum Lebensende in eine intakte Familie einheiratet, die ihn zum Sterben aufnimmt wie ihren Patriarchen? Und daß er so sterben kann, wie er gelebt hat, ohne Kampf und ohne Schmerzen?
Die Aussicht auf ein besseres "Leben danach" hat er nicht gebraucht; sie wäre ihm ganz unglaubwürdig erschienen. Die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gebe, hat ihn ergo nicht beschäftigt, auch nicht auf dem Sterbelager. Die zahlreichen Nachruf-Zitate seines Spruchs "Man sieht sich im Himmel, auf Wolke 7" (der sogar geistliches Lob erfahren hat) mißverstehen eine selbstironische Nebenbemerkung; jedenfalls unterschlagen sie die eindeutige Feststellung: "Ich glaube nicht an das Leben nach dem Tode. Auch nicht an Seelenwanderung oder an eine Wiedergeburt." Sterbebett-Visionen von einer anderen, besseren Welt hat er ebenfalls nicht gehabt - wie Adenauer etwa, dieser Menschenverächter, der wenige Tage vor seinem Ende noch erzählte, er habe geträumt, "daß im Laufe der Jahrtausende die Menschen doch besser würden". Friedrichs hatte "wilde Träume..., optische Kurzzitate, Realitätsfetzen, Erinnerungsschübe" aus dem gelebten Leben. Was das Jenseits angeht, so hätte er es gewiß eher mit Karl Moor aus den Räubern gehalten: "Sei wie du willst, namenloses Jenseits - bleibt mir nur dieses mein Selbst getreu. Sei wie du willst, wenn ich nur mein Selbst mit hinübernehme. Ich bin mein Himmel und meine Hölle."
Daß er das Ende seines Lebens selbst bestimmen wolle, und zwar dann, wenn dieses Leben ihm nicht mehr sinnvoll erschien - daran hat Hanns Joachim Friedrichs, spätestens seit er wußte, daß er unheilbar an Krebs erkrankt war, keinen Zweifel gelassen. Zwar hat er längst nicht so viel zu leiden gehabt wie viele, allzu viele Krebspatienten im Endstadium. Aber er litt in den letzten Lebenstagen sehr unter dem rasch fortschreitenden körperlichen Verfall - kein Wunder bei einem Mann, der zu seiner Körperlichkeit allzeit ein sehr intensives, vor allem intensiv ästhetisches Verhältnis gehabt hat. Er erfuhr, "daß der Kranke... trotz der immer wirksamer werdenden Mittel medizinischer und sozialer Assistenz Gefahr läuft, sich von der eigenen Gebrechlichkeit erdrückt zu fühlen"; wenigstens diesen Satz aus der Enzyklika Evangelium vitae Johannes Pauls II. hätte er gewiß unterschrieben.
Er durfte sicher sein, daß eine Bitte um Sterbehilfe gehört und auch befolgt worden wäre. Er hatte mehr als nur einen Freund, den er - wie Sigmund Freud seinen Max Schur - hätte beim Wort nehmen können. Er hat das gewußt, und es hat ihm geholfen, einen Zustand zu ertragen, den er eigentlich als unerträglich empfand. Wer in den letzten Tagen seines Lebens noch mit ihm sprechen konnte, bekam das auch zu hören: "So wie ich jetzt lebe, will ich nicht leben. Werde ich auch nicht lange leben. Wenn da nicht von der Medizin aus was passiert, dann passiert von mir aus was." Aber "passiert" ist dann doch nichts. Hanns Joachim Friedrichs hat keine Sterbehilfe gebraucht. Er ist gestorben, als er nicht mehr leben wollte. Er ist seinen eigenen Tod gestorben.
Zwei drei Tage vor dem Ende zog er sich zurück in ein Zwischenreich, in das ihm auch die Seinen nicht mehr folgen konnten. Er war kaum noch ansprechbar. Versuche, ihm etwas mitzuteilen, wehrte er mit einem gemurmelten "später" ab und versank wieder in einen Dämmer, den die bescheidene Dosierung der schmerzlindernden Medikamente in seinem Tropf schwerlich auslösen konnte. Am Abend des 27. März meinte Helge, sein angeheirateter Schwiegersohn und von Beruf Facharzt der Anästhesie, bei seinem letzten Besuch am Krankenbett, es werde wohl noch zwei Tage so gehen. Ein paar Stunden später, kurz vor ein Uhr nachts am 28. März, starb Hanns Joachim Friedrichs, mit sich und seinem Tod im Frieden.
In dieser Nacht saßen Ilse, seine Frau, ihr Sohn Tilman und dessen Gefährtin Sybille, die Tochter der ersten Frau Friedrichs, noch viele Stunden am Bett des Toten, der gar nicht tot aussah, tranken Tee, weinten und redeten von ihm. Und mehr als einmal hatten sie das deutliche Gefühl, Hanns höre ihnen zu.
Der Text ist mit freundlicher Genehmigung des Autors entnommen aus:
Hermann Schreiber: Das gute Ende. Wider die Abschaffung des Todes
Rowohl-Taschenbuch, Reinbek, ISBN 349960342X