FAZ

FAZ - Frankfurt a. M., 13.11.2002

Ich habe das Leid gesehen, da ergreift man Partei

Beruf Reporter: Warum Dirk Sager den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis bekommt

Von Wolf Biermann

Eigentlich kenne ich ihn viel zuwenig. Was weiß ich schon, wie er damals in Ost-Berlin war, wie er heute ist in Moskau. Ich sehe gelegentlich seine Sendungen und denke, der sieht immer besser aus, je mehr das Alter sein Gesicht formt. Er war vor nun dreißig Jahren als blasser junger Mann aus dem Westen auf den Außenposten nach Ost-Berlin geraten, für einen strammen Ostreiter vielleicht ein bißchen zu schüchtern, zu gutgläubig. Und für einen kaltschnäuzigen Medienkrieger kommt Dirk Sager mir als zu wahrheitsversessen vor und zu empfindsam, also eher untauglich für den Kalten Krieg.

Sie erinnern sich: In der frühen Etappe, also in den fünfziger und sechziger Jahren, da waren im zerrissenen Deutschland die meisten West-Journalisten gegenüber der kleinen schmuddeligen DDR eher hochnäsig gewesen, oder wie die Franzosen grobianisch sagen: Sie furzten höher, als ihr Hintern kommt. Westkorrespondenten berichteten feindselig über die Ostzone jenseits des Eisernen Vorhangs wie über ein unbewohnbares Unland, wie über ein totalitäres Bestiarium und konnten dabei oftmals eine Schlange nicht von einem Karnickel unterscheiden.

In der folgenden Phase der Neuen Ostpolitik, als vor nun dreißig Jahren durch den ausgehandelten. Grundlagenvertrag akkreditierte Westjournalisten sogar in Ost-Berlin ihre Büros betreiben durften, kippten dann aber etliche dieser plötzlich exotisch Privilegierten in die dazu passende Gegenschiefheit: Sie verhielten sich nun gradezu ängstlich devot, allzu diplomatisch. Sie vermieden peinlich, den Westfinger in irgendwelche Ostwunden zu legen. Und für diese politische Liebedienerei hatten sie sogar eine plausible Begründung: Nach all dem versprühten Gift im Grabenkrieg des Ost-West-Konfliktes müsse der verteufelte DDR-Staat nun entteufelt werden, nun müsse man endlich den Menschen im Westen verklickern, daß die DDR-Deutschen da drüben, mit denen man ins Geschäft kommen wollte, erstens auch Menschen sind und zweitens Deutsche. Auch aus diesem sympathischen Grund kam es wohl soweit, daß nun manche Westjournalisten all zu verständnisvoll und gedankenleer über das Regime in der DDR berichteten. Sie vermieden jeden Kontakt mit Widersprechern, geschweige denn Widerständlern. Dirk Sager aber gehörte mehr zum Schlage von Leuten wie Lothar Loewe, oder wie Jörg Mettke und Ulrich Schwarz vom „Spiegel". Dirk Sager zählte - so kam es mir jedenfalls vor - als Redakteur beim ZDF-Studio in Ost-Berlin zu denen, die weder hoch- noch tiefnäsig waren, wenn sie ihre Nase in unsere DDR-Angelegenheiten steckten.

Gewiß hatte er den Ehrgeiz, die Grundtugend des Journalisten zu üben. Er verhielt sich weder wie ein Hund an Kurt Hagers Leine noch wie ein Kombattant von Dissidenten wie Robert Havemann. Er sah seine Aufgabe darin, den Leuten, die ihn im Westen schließlich für diese Aufgabe engagiert hatten, ein möglichst wahres und zudem klares Bild der Realitäten von der unsichtbaren, der östlichen Rückseite des politischen Mondes zu liefern. Dirk Sager, der in der Regel ja andere interviewt, wurde selbst mal befragt über seine Reporterrolle im blutigen Kuddelmuddel, dieses Mal des afghanischen Krieges. Ihm wurde die Gretchenfrage gestellt: „Ist es nicht schwierig, im Kriegsgebiet als Berichterstatter objektiv zu bleiben, nicht insgeheim Partei zu ergreifen für die unterdrückte, die schwächere Seite?" Und Dirk Sager antwortete im Reflex wie aus dem Schulbuch für Journalisten in einer demokratischen Gesellschaft. Allerdings mißriet ihm die Antwort zu einem hinreißend wahrhaftigen Widerspruch: Am Anfang seiner Sätze sagte er nämlich: Ich, der Reporter Dirk Sager, nein nein, ich ergreife niemals Partei. Aber am Ende sagt er das genaue Gegenteil. Im 0-.Ton aus seinem Munde hört es sich so an: „Nein. Partei zu ergreifen ist nicht meine Aufgabe. Meine Aufgabe ist es, die Gebührenzahler des ZDF über die Lage im Land möglichst sachlich zu informieren. Das ist auch keine sportliche Aufgabe oder mutige Tat. Ich mache dort einfach meinen Job. Das Gerede vom emotionalen Reporter ist Unsinn. Ganz persönlich bin ich natürlich gegen die Taliban und gegen Bin Ladin. Ich habe in Kabul mit gequälten Frauen gesprochen und das Leid gesehen, das die Taliban angerichtet haben. Da ergreift man Partei, da verschließt man nicht die Augen." Geheimrat Goethe, der mehr Zeit hatte zu überlegen und sich deshalb kürzer fassen konnte, schrieb zum gleichen Thema in den Maximen und Reflexionen: „Aufrichtig zu sein, kann ich versprechen - unparteiisch zu sein aber nicht."

Ja, wenn das Herz eben doch Partei ergreift, insbesondere für die geknechteten und gequälten Menschen, für die sogenannten einfachen Leute, dann ist man vor lauter Mitleid vielleicht sogar mal verführt, zu deren Gunsten auch ein bißchen zu lügen. Manchmal bestehen solche Lügen nur darin, daß man zwar nicht plump die Unwahrheit sagt, sondern daß man auf indirekte Weise lügt: indem man schmerzhafte und gefährliche Wahrheiten lieber verschweigt. Zum Beispiel den blutigen und brutalen moslemischen Fundamentalismus etlicher tschetschenischer Freiheitskämpfer im Guerrillakrieg gegen die übermächtige russische Armee. Auch für die raffiniertere Lügerei gilt aber immer noch das Wort von Lessing: „Wer der Wahrheit mit Hilfe von Lügen zum Siege verhelfen will, der kann wohl der Kuppler der Wahrheit sein, aber niemals ihr Geliebter."

In diesem Sinne gehört Dirk Sager offenbar zu denen, die von der Göttin der Wahrheit geliebt werden. Und dann vollen wir ihm unsere irdische Anerkennung nicht versagen. Also wird diesem tapferen Filmschneiderlein der Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis verliehen. Der lieferte übrigens dasselbe, was ich über die ethischen Geschäftsbedingungen des Journalismus umständlich referiere, mit dem lapidaren Satz: „Du darfst dich als Journalist nicht gemein machen, auch nicht mit einer guten Sache."

Der Journalist mag persönlich begeistert und entzückt, er mag gelegentlich erschüttert oder sogar entsetzt sein - er darf sich mit seinen Meinungen und Gefühlen nicht zwischen uns und die Wirklichkeit drängeln. Wenn überhaupt, dann sollte er zwischen dem einzelnen Zuschauer am Fernsehapparat und dieser irrenden Menschheit so etwas sein wie eine bridge over troubled waters. Alles, was uns gute Journalisten aus aller Welt ins Wohnzimmer liefern, hat ja auch eine tagespolitische Brisanz für uns hier in Deutschland.

Da wir ja in einer Demokratie leben, haben wir die Chance und die Verpflichtung, uns immer wieder neu in unsere eigenen Angelegenheiten einzumischen. Wie sollen wir Deutschen uns heute im wüsten Weltdurcheinander verhalten im hochwahrscheinlichen Krieg gegen den Kriegstreiber und Hitlerbewunderer Saddam Hussein? Ist unser Verbündeter Präsident Bush ein schießwütiger Cowboy oder tapferer Humanist, der aus den Inkonsequenzen seines Vaters im ersten Golfkrieg gelernt hat? Ist unser Kanzler Schröder ein zynischer Machtmensch, der sich kurz vor den schon fast verlorenen Wahlen in die Appeasement-Pose warf, um mit dieser süßen Melodie die alternaiven Friedensschafe in seinen Pferch zu locken? Oder ist er großmütiger und weiser als wir nachtragenden Kleingeister, die es empört, wenn Gerhard Schröder den ehemaligen Stasi-Zuträger IM „Sekretär" in sein Kabinett holt? Wächst da zusammen, was zusammengehört? Wie sollen wir Deutschen uns verhalten zum Vernichtungskrieg unseres knallharten Partners Putin, der als Geheimdienstoffizier der Sowjetunion in Dresden so sauber Deutsch gelernt hat? Er führt einen schmutzigen Krieg im Kaukasus - oder ist das etwa ein leider notwendiger Anti-Terror-Kampf, so wie der schwierige und langwierige Krieg gegen die Leute von Bin Ladin? Werden davon Putins russischer Armee ein paar terroristische Tschetschenen bekämpft und liquidiert, oder wird dort im Schatten attraktiverer Weltkatastrophen systematisch ein widerspenstiges Volk ausgerottet? Sollen wir mit den Amerikanern und Briten in den nächsten Golfkrieg ziehen? Soll ein Exportland wie das unsere die Augen zukneifen, sich die Ohren verstopfen und lieber mit dem neuen Zaren im Kreml lukrative Geschäfte machen und uns durch eine moralische Kapitulation vor Franzosen, Engländern und Amerikanern den gigantischen Markt Rußland und Milliardenaufträge sichern?

Dirk Sager ist einer von denen, die uns helfen, in diesem Wust divergierender Interessen bei aller komplizierten Kompliziertheit dennoch immer wieder auch zwei Wörter zu wagen, um die wir uns am Ende nicht drücken können: Nein! und Ja! Darum freue ich mich, daß statt all der Gewehrkugeln, Schrapnelle, Granatsplitter, Landminen und Bomben in den diversen Kriegs- und Krisengebieten nun diese hohe Ehrung und unsere Glückwünsche gerade diesen Reporter erwischt haben

Der Schriftsteller Wolf Biermann hielt die Laudatio auf Dirk Sager zur Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises gestern abend in Köln.