Denis Scheck - Laudator 2018

Denis Scheck
Laudator Denis Scheck

"Meine Damen und Herren, frohe Festgemeinde des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises!

Vor rund zweihundertvierzig Jahren begegnet Johann Wolfgang Goethe auf seiner italienischen Reise in Perugia einem italienischen Grafen, der ihm einen Ratschlag gibt. Ich habe immer gefunden, es ist der beste Ratschlag, der je einem Reisenden zuteil wurde. „Da ich oft still und nachdenklich war, schreibt Goethe, sagte er einmal: Chepensa? Was denkt ihr viel? Der Mensch muß niemals denken, denkend altert man nur. Der Mensch muß sich nicht auf eine einzige Sache heften, denn da wird er toll, man muß tausend Sachen, eine Konfusion im Kopf haben. Una confusionnellatesta“

Una confusionnellatesta: das ist beste Definition einer Fernsehsendung, die ich kenne. Und „Kulturzeit“ erfüllt sie prächtig, indem sie Tag um Tag diese Konfusion im Kopf stiftet. Vom Himmel über die Erde in die Hölle und zurück führt der Weg dieser Sendung. Alles, was ich liebe, ist hier: Gedankenreichtum, Poesie, Widerstand und Schönheit. Und alles, was ich hasse ist, hier: die Gebetstrommeln der politischen Korrektheit, das Nachbeten der Tagesparolen „Vier Beine gut, zwei Beine schlecht“. Ein Beispiel, blind herausgegriffen aus einer, wohlgemerkt nur einer, Sendung der letzten Woche: Ich reise in dieser Sendung mit einer französischen Kriegsfotografin in ein Rohingya-Lager, wo vergewaltigte Frauen ihre Kinder zur Welt bringen, die wie Aussätzige behandelt werden. Ich erfahre von der deutsch-französischen Historikerin Geraldine Schwarz, dass ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit vor Rechtspopulismus schützt und unser Frieden von unserer Fähigkeit abhängt, uns zu erinnern. Ich lerne in dieser Sendung den dänischen Perormancekünstler und Schriftsteller Madame Nielsen kennen, der sich selbst als Mann beerdigt hat und seitdem als Frau lebt und folgende Sätze sagt: “Der Mensch an sich ist vielleicht ein Monster. Ich finde Monster sehr interessant. Ich will gerne hinter meine eigenen Vorurteile. Wenn ich denke: Der Typ ist bestimmt ein Schwein, dann sollte ich ihm vielleicht mal in die Augen schauen.“ Die Komponistin Olga Neuwirth schwärmt von Hermann Melville und sagt: „Dafür ist Kunst gut, den Menschen aufzuwühlen, ihn in die Seele zu treffen, ihn nachdenken zu lassen, denn, den Menschen zum Nachdenken zu bringen, ohne in Haß und Hysterie zu verfallen: mehr kann man von Kunst nicht verlangen“. Und zum ersten Mal in meinem Leben höre ich, dass es einen 1924 gedrehten expressionistischen Stummfilm gibt, basierend auf Hugo Bettauers Roman „Die Stadt ohne Juden“. Schließlich begegne ich Anselm Kiefer, der sich allen Ernstes als „Meister des Kleinformats“ bezeichnet und sagt: „Ich mache Kunst, weil ich glaube, daß die Welt gar nicht existiert.“ Und Ferdinand von Schirach gibt mir zum Schluss noch die Behauptung mit auf den Weg, dass zur Zeit Goethes prozentual genau so viele Menschen gelesen haben wie heute.

Und das alles, sapperlot, in einer Sendung von knapp 38 Minuten! Kulturzeit hat Goethes italienischen Grafen beim Wort genommen. „Chepensa? … Der Mensch muß sich nicht auf eine einzige Sache heften, denn da wird er toll, man muß tausend Sachen, eine Konfusion im Kopf haben. Una confusionnellatesta“ Deshalb ist Kulturzeit die Sendung mit der höchsten Gedanken- und Ideendichte im deutschen Fernsehen. Und deshalb hat Kulturzeit diesen Sonderpreis zum Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis mehr als verdient. Also vorwärts mit im Kampf gegen die verderbliche Schundliteratur! Nieder mit allem Blöden, Abgeschmackten und Talentlosem auf unseren Bühnen, im Kino oder in den Konzertsälen! Ein Hoch aufs Feuilleton im Fernsehen, ein Hoch auf die Kulturkritik, ein Hoch auf die Kulturzeit!"